„Vor hunnert Jahr und heidzudaachs“
Wieder einmal war die Autorin Gertraud Lindemann im Museum Castellum zu Gast, um ihre Mundarterzählungen zum Besten zu geben. 13 Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend, ebenso Geschichten aus dem Erwachsenenalter, waren für die zahlreichen Zuhörer beste Unterhaltung im Ginsheimer Dialekt der Schriftstellerin.
Gleichfalls flocht sie auch Erlebnisse ihres Vaters aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhundert mit in die Lesung ein. Es war ein buntes Gemisch von Erzählungen unter der Überschrift „Vor hunnert Jahr und Heidzudaachs“. In der ersten Erzählung schilderte die gelernte Pädagogin ihren eigenen Schulbesuch im Mainzer „Frauenlob“, einem (damals) Mädchen-Gymnasium, in der die besser gestellten Familien ihre Töchter zwecks besserer Bildung einschulten. Eine Schülerin wie sie war dort eine Exotin, zumal ihr Vater Müller war, und das Stadt-/Landgefälle ihr beim Besuch bei einer Mitschülerin deutlich wurde, als deren Mutter den Beruf des Vaters als „drollig“ bezeichnete. Die Turnstunden an der Kletterstange waren qualvoll, und auch die Skifreizeit bereitete wenig Spaß.
Der Besuch bei „Bruno“, dem ersten italienischen Restaurant in Mainz wo sie erstmals eine Pizza kennenlernte, und die Urlaube in Frankreich, wo man die Hüllen fallen ließ, waren die erfreulicheren Ereignisse in der Jugendzeit. Nicht für alle Kinder war das Leben ganz ohne Sorgen. Von ihrem Ehemann berichtete sie, daß dieser als Kind in Kur geschickt wurde, um zuzunehmen. Die Unterversorgung der Kinder war damals ein breites Thema. Nur alles was es da zu essen gab, war ungewohnt oder es schmeckte nicht jedem Kind. Die von zu Hause gewohnte Küche fehlte, und der Geschmack der Speisen unterschied sich doch sehr vom heimatlichen Herd. So kam manches Kind genauso dürr und schmal wieder nach Hause zurück, und man wunderte sich, was denn der Grund war. „Es hodd halt nidd geschmeckt“, war die lapidare Antwort auf entsprechende Nachfrage. In ihrer Jugendzeit spielte auch schon die Liebe eine bedeutsame Rolle.
Die erste Kinderliebe begann schon im Kindergartenalter, als sie für ein Bürschchen schwärmte, der sie aber recht robust behandelte. Daß dieser junge Mann später ihr Ehemann werden sollte, war noch nicht absehbar. Man verlor sich wieder aus den Augen, bis in der Pubertät die Umschau nach einem Partner wichtig wurde. Auch waren die Gespräche der Erwachsenen um die „wichti-gen“ Dinge im Leben jetzt interessant. Über eheliche Pflichten und eheliche „Sauereien“ wurde da geredet. Man verstand zwar nicht alles, spitzte aber die Ohren. Aufklärung gab es nicht, und wenn die Natur ihren Lauf nahm, so wurde das kurzerhand von der Mutter mit den Worten kommentiert: „Dess kimmt immer widder!“ Die ersten Liebesgeschichten mit eigener Erfahrung sammelte man in der freien Natur, wo man im VW-Käfer ein „Schäferstündchen“ absolvierte, dabei aber vom Bauern entdeckt wurde, der mit anderen Kollegen auf der Suche nach Erntedieben war. Nach kurzer Betrachtung der Gegebenheiten mit der Taschenlampe entschied sich der Landwirt, die Liebenden in Ruhe zu lassen und kommentierte kurz und trocken: „Weitermachen!“ In einem der Nachbarhaushalte gab es an einem frühen Sonntagmorgen eine faustdicke Überraschung. Lag doch auf dem Küchensofa ein farbiger Mann in Uniform und schlief. Die Schuhe standen akkurat daneben, die Jacke hing auf der Stuhllehne, der Soldat fühlte sich offensichtlich zu Hause. Des Rätsels Lösung: Am Abend zuvor, war der in Erbenheim stationierte GI in Wiesbaden ausgegangen, und hatte beim Tanzen ein Ginsheimer Mädchen kennengelernt. Diese war für ihre Leichtlebigkeit bekannt, und hatte offenbar dem Soldaten Avancen auf eine ereignisreiche Nacht gemacht. So orderte er ein Taxi, das sie nach Ginsheim brachte. Dort angekommen, sprang die Dame überraschend aus dem Auto, und verschwand im Häusergewirr des Dorfes. So allein gelassen, suchte der Amerikaner eine Bleibe, und fand ein offenstehendes Hoftor, durch das er in die Küche der besagten Familie gelangte. Auf dem Sofa war es bequem, und so verbrachte er die Nacht bei dieser Familie, die ihn dann zum Frühstück einlud. Anhaltender Beifall des Publikums war der Dank für einen gelungenen Abend. Der 1. Vorsitzende Karl-Heinz Kues dankte der Autorin mit einem Blumengruß. Die Ankündigung eines neuen Buches mit ihren Mundartgeschichten wurde freudig zur Kenntnis gekommen.